Mittwoch, 26. April 1995

Rezension: Minotaurus


Manche Spiele machen es einem schon schwer - zumindest anfangs! In ihrer ganzen Pracht liegt sie nun auf dem Tisch: die wunderschöne hölzerne Kassette mit der Abbildung des Minotaurus. Die beiden bedruckten Sperrholzbretter sind doch so "unverrückbar" mit einem dunkel gebeizten Holzrahmen verbunden, daß das eigentliche Spiel wieder in unerreichbare Ferne zu rücken scheint. Jeder Experte muß sich fragen, ob MINOTAURUS als Geschicklichkeitsspiel gleich mit dem Öffnen der Schachtel beginnt? Aber man ist ja schließlich Fachmann: die Zange aus dem Werkzeugkasten gezückt, vorsichtig 4 Holznieten aus den Löchern gezogen, die Lederlaschen abgestreift, und schon ist dieses außerordentliche und sicherlich nur für Spielekritiker erkennbare Problem gemeistert. Aber wie das bei Geschicklichkeitsspielen so ist: Einmal gelöst - immer gelöst. Je häufiger die Kiste geöffnet wurde, desto leichter können dann die Holznieten auch mit den Fingern aus ihren Löchern gezogen werden.

Das Spielmaterial ist mindestens genauso prachtvoll wie die Kiste. Es besteht aus 5 Sätzen à 10 quadratischen Tonsteinen, einer minoischen (sehr abstrakten) Stierhornskulptur aus Ton und einem ledernen Wurfring. Das ganze wirkt sehr authentisch, als käme es direkt aus einer Ausgrabung. Die kurze Spielregel paßt schon nicht mehr so gut in das antike Ambiente, eine Fotokopie ist da schon ein Stilbruch. Wäre MINOTAURUS tatsächlich ein antikes Spiel, müßten wir uns auf die mündliche Überlieferung des Herrn Sohre (Theta promotion) verlassen, der MINOTAURUS letztes Jahr in Essen vorstellte. Aber wer behält schon alle Regeldetails, wenn während des Erklärens rundherum hektischer Messetrubel herrscht. Ich verlasse mich da lieber auf eine geschriebene Regel, die zwar verständlich aber viel zu technokratisch verfaßt wurde.

Kurz ausgedrückt: MINOTAURUS ist ein taktisches MEMORY mit einem Geschicklichkeitselement für 3 bis 5 Spieler. Die Tonsteine ersetzen die Bildkarten, wobei alle Steine ein wenig unterschiedlich sind. Die Größe variiert ebenso wie die Färbung des gebrannten Tons. Für das Spiel selbst ist diese Tatsache ziemlich unerheblich, es sei denn, man merkt sich alle Unterschiede.

Zwei Steine bilden wie beim Vorbild ein Paar. Die Crux bei der Sache ist allerdings, daß nicht zwangsläufig gleiche Bilder gesammelt werden müssen, sondern farbgleiche linke und rechte Stierkopfhälften! Um noch eins draufzulegen, sind die Stierkopfhälften mit 1 bis 5 Punkten versehen. Wer je einen rechten und linken Kopf gleicher Farbe mit unterschiedlichen Punkten aufgedeckt hat, darf diese Kombination zunächst vor sich ablegen. Bei Spielende zählen aber nur die punktgleichen Paare.

Um punktgleiche Paare zu erhalten, kann statt des Aufdeckens von pro Zug 2 Tonsteinen ein Gegenspieler zum Wurfduell herausgefordert werden. Voraussetzung für diese Geschicklichkeitsprüfung ist, daß jeder der Kontrahenten ein Paar gleicher Farbe besitzt, bei dem auch die Punkteanzahl auf einem Stein beider Paare übereinstimmt. Wer also die Kombination 1 und 5 Punkte besitzt, kann einen Gegenspieler mit der Kombination 2 und 5 herausfordern; 5 Punkte kommen in beiden Paaren vor. Der Kampf beginnt mit dem Wurf des Herausforderers, der Verteidiger darf "nachwerfen". Wer als einziger den Lederring um eines der beiden Hörner der Skulptur wirft, darf die gewünschte Kombination zusammenstellen. Treffen beide oder keiner, bleibt bis zur nächsten Herausforderung alles beim Alten. Natürlich sind punktgleiche Paare bis zum Spielende gegen Herausforderungen gefeit. Wurfduelle machen aber nur Sinn, wenn man selbst entweder schon viele Kombinationen vor sich liegen hat oder ein besonders wertvolles Paar erobert werden kann. Meistens wird zu Beginn fleißig gesammelt, gegen Ende kommt es dann zu den Wurfduellen.

MINOTAURUS stellt hohe Anforderungen an die Merkfähigkeit der Mitspieler. Es ist gar nicht so einfach, die rechten und linken Stierkopfhälften auseinanderzuhalten. Merkwürdigerweise wird es auch dadurch nicht einfacher, gleichfarbige Paare mit unterschiedlichen Punkten kombinieren zu können. Gerade eingefleischten MEMORY-Spielern wird diese Option zu schaffen machen! Von den Schwierigkeiten bei den Würfen mit dem Lederring will ich gar nicht erst sprechen!

Für wen ist MINOTAURUS das "richtige" Spiel? MEMORY-Spieler müssen es eigentlich kaufen. Aber auch wer an aufwendig und sehr schön gestalteten Spielen Spaß hat, kommt an MINOTAURUS nicht vorbei. Wegen des hohen Preises wird MINOTAURUS allerdings ein Liebhaberstück bleiben.

Wolfgang Friebe


Zuerst veröffentlicht in der Fairplay 29