Keep fully invested
Jedes Spiel hat seine Zielgruppe. Aber hat auch jede Zielgruppe ihre Spiele? Banale Frage, oder? Frauen zum Beispiel, die wissen immer ganz genau, was sie spielen wollen. „Was schnelles, was lustiges“, das ist ihr Wunsch. Auch gerne was gruppendynamisches, was kommunikatives. Manchmal komme ich dieser charmanten „Bitte“ gerne nach, diesmal greife ich aber doch zu CHICAGO EXPRESS. Erstes Tabu: Eisenbahnen! Zweites Tabu: Aktien! Oh Gott, oh Graus. Da kann man sich fast schon ausrechnen: Ich gewinne, die Damen spielen irgendwie ... so ... mit. Wenn's nur so ginge!? Ich spiele irgendwie ... so ... falsch und die Damen gewinnen!
Entweder liegt es an den Damen oder an den Unwägbarkeiten. Bestimmt nicht an meinem Unvermögen. Vielleicht sollte ich es nur mit der richtigen Zielgruppe spielen, die sich zu fast 100 % mit der Leserschaft der Fairplay deckt. Weiß ich doch, dass die im wesentlichen männlich und so um die 40 sein müsste. Für die ist CHICAGO EXPRESS genau das richtige Spiel. Optisch hervorragend gelungen, und eben Eisenbahn mit Aktien. Da erinnert man sich gerne. Vor gut 20 Jahren hat man noch 1829, 1830 oder 1835 gespielt. Mit viel Spaß und noch mehr Zeit. Davon hatte man damals noch genug. Und wenn man jetzt CHICAGO EXPRESS in einer Stunde bewältigen kann, dann ist das doch Genuss pur. Oder?
Irgendwie hat Queen Games ein Händchen für perfekte Spiele. Sehr gut gefallen mir die Aktien. Nicht auf irgendein Stück Papier, sondern doppelseitig auf zarteste Elefantenhaut gedruckt; das hat Stil und Menzels Design. Und erst die kleinen Lokomotiven, aus denen die Netze der Gesellschaft entstehen. Netz ist wohl übertrieben, denn es gibt eigentlich nur ein Ziel für Streckenbau: Chicago liegt am anderen Ende des Spielfelds. Fünf Gesellschaften starten an der Ostküste. Auf dem Weg nach Chicago schließt man unterwegs ein paar Städte an, das ist wirtschaftlich. Eher unwahrscheinlich, wenn Abzweigungen entstehen. Die Loks reichen nur so gerade, um nach Chicago zu gelangen. Das muss man wissen. Chicago zu erreichen lässt den Kurs der Gesellschaft um satte sieben Punkte steigen. Das spült nicht nur dauerhaft eine höhere Dividende in die Kasse Aktionäre, sondern es wird auch sofort eine Sonderausschüttung fällig. Und genau darum geht es: Kohle, Dollar, Mäuse, Bares!
Aber was tun? Nachdem je eine Aktie jeder Gesellschaft versteigert wurde und dadurch Geld in die Kasse der Eisenbahn gekommen ist, beginnt das Spiel. Ganz wichtiger Grundsatz: Keep fully invested. Das wussten auch die amerikanischen Eisenbahnbarone. Wie viel Geld man für die erste Aktie bietet ist fast nebensächlich. Wer sie supergünstig bekommt, weil gerade nur Anfänger mitspielen, der steht scheinbar gut da. Ein Aktie für unter 10 $ zu ergattern ist zwar gut, bringt aber eben nur 10 $ in die Kasse der Gesellschaft. Als Startkapital zu wenig, um damit gewinnträchtig Strecken zu bauen, Städten anzuschließen, Gebirge und Wälder zu durchqueren. Obwohl, auch mit einer wenig entwickelten Gesellschaft kann man reich werden. Ob man damit gewinnen wird, steht auf einem anderen Blatt.
Und wie hoch soll man bieten? Wenn man das so genau wüsste. Jede ersteigerte Aktie spült Geld zurück in die Kasse. Ist man alleiniger Aktionär, bekommt man den aktuellen Kurswert als Dividende, sonst wird durch die Anzahl der verkauften Aktien geteilt. Und umso früher man sie kauft, desto mehr Dividende streicht man ein. Deshalb erneut: Keep fully invested! Aber wie hoch kann man gehen? Dieser Frage sollte man sich aber stellen, wenn man die wichtigste aller Aktionen wählt. Nur zwei Mal innerhalb eines Durchgangs – bis zur Dividendenzahlung – wird eine Aktie versteigert. Und noch was sollte klar sein: Will ich die Aktie überhaupt für mein Portefeuille? Oder ist diese Aktie für einen Mitspieler nicht wichtiger? Dann kann man den Preis auch in schmerzhafte Höhen schrauben und dann aussteigen. Ob's klappt? Wer eine Aktie einer Gesellschaft mit nur einem Aktionär versteigert, setzt den bisherigen Alleininhaber gehörig unter Druck. Kauft er die Aktie vergrößert er dadurch nicht seine Dividende, kauft jemand anderes die Aktie sinkt seine Dividende um die Hälfte. Beides ist höchst ärgerlich. Mir ist das als erste Aktion eines „lieben“ Mitspielers widerfahren. Alle anderen bekamen in der Dividendenphase vollen Kurswert ausgeschüttet, ich nur die Hälfte. Je weniger Dividende man im Verhältnis zu den anderen Aktionären bekommt, desto größer wird der Abstand zu den Großkapitalisten. Da öffnet sich eine Schere. Geld bringt Geld, halbes Geld bringt auch nur halbe Geld.
Bisschen viel für den Anfang? Natürlich kann man auch lieb beginnen und konventionell Strecken bauen und den Wert der „eigenen“ Gesellschaft steigern. Immer daran denken: Ein hoher Wert zieht Aktionäre an. CHICAGO EXPRESS ist kein Bauspiel, hier geht nur um Kohle, und daran kommt man nur über Aktien. Bauen ist sowieso nicht alles, denn manchmal hat man gar kein Interesse, selbst tätig zu werden. Wer nicht die Aktienmehrheit hält, lässt lieber den Mehrheitsaktionär bauen. Manchmal wird auch gar nicht gebaut. In meinen Partien passierte dies kurioserweise immer der roten Gesellschaft. Zwei der drei Aktien waren an unterschiedliche Spieler verkauft – keiner baute, weil sich jeder der beiden Aktionäre um seine anderen Gesellschaften kümmerte. Trotzdem rollte der Dollar, zwar spärlich, aber jede Runde.
Wer keine Aktie versteigert oder Strecke baut, erhöht die Dividende der Gesellschaft. Dazu wird, ein kostenloses Häuschen abgestellt, schon steigert sich der Wert der Gesellschaft um ein oder zwei Dollar. Das ist schön, besonders wieder für den Mehrheitsaktionär. Und es gibt sogar noch eine vierte Möglichkeit: Nix machen. Einfach den Zeiger einer der drei Aktionsuhren ein Feld weiter drehen. Gelangt er auf rot, ist erstmal in dieser Runde Schluss mit dieser Aktionsmöglichkeit.
Wenn zwei der drei Aktionsmöglichkeiten ausgeschöpft wurden und auf „Rot“ stehen, gibt’s die Dividenden, bekommt man sein Geld wieder raus – zumindest teilweise. Damit wird dann weiter gewirtschaftet. Noch gilt: Keep fully invested.
Beim ersten Anschluss von Chicago gründet sich zudem ein neue Gesellschaft, deren erste von zwei Aktien sofort versteigert wird. Die Wabash Railroad Company kann sich zu einer sehr lukrativen Gesellschaft entwickeln – kann! Muss aber nicht, wie ich schon am eigenen Leibe erfahren durfte. Aber manchmal kann man mit dieser kleinen Gesellschaft einen Coup landen, indem man für wenigstens einen Durchgang alleiniger Wabash-Aktionär bleibt und auch Strecke bauen kann. Dann fährt die Wabash sofort nach Chicago und ich bekomme ganz allein die Sonderdividende. Das wäre so schön, leider wird es bei aufmerksamen Mitspielern nicht oft klappen. Eine Wabash-Aktie kann auf jeden Fall teuer werden.
Jede Investition, nicht nur der Kaufpreis für die Wabash-Aktie, ist immer ein Rechenexempel. Gelingt es mir, meine Investition bis zum Spielende heraus zu holen? Und wie hoch wird der Gewinn sein? Das könnte man errechnen, aber nur wenn man die Unwägbarkeiten – Spielende, Aktionsmöglichkeiten, stringentes Spielen der Mitspieler, im Blick behält. Zum einen können Bauchspieler groß auftrumpfen, die das richtige Händchen oder Gefühl für jedwede Aktieninvestition haben. Auch für sie gilt natürlich der Leitsatz: Keep fully investetd – aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Irgendwann holt man das investierte Geld nicht wieder raus.
CHICAGO EXPRESS ist kein Spiel, das einfach zu erschließen und einfach zu spielen ist. Es ist knallhart, man kann gebeutelt werden, ohne dass man dagegen viel machen könnte. Man denke an die Schere, die sich bei den Dividenden sehr schnell öffnen kann. Oft entstehen auch Koalitionen, man unterstützt sich gegenseitig. Oder auch nicht, alle belauern sich und gönnen sich weder Butter noch Brot. CHICAGO EXPRESS kann so gnadenlos sein. Trotzdem, CHICAGO EXPRESS gefällt mir gut. Ich mache mir mehr Gedanken, höre auf meinen Bauch ... und scheitere grandios. Gegen die Damen. Siegt das bessere Gefühl? Was habe ich bloß falsch gemacht? Habe ich zu teuer gekauft? Wahrscheinlich ...
Ein Erfolgsrezept habe ich nicht gefunden, außer: Kaufe günstig und ärgere die anderen, bevor sie mich ärgern können. Außerdem: „Keep fully invested!“, aber nur solange, wie noch Gewinn zu erwarten ist. Und lasse niemals, wirklich niemals, jemandem ganz alleine eine Gesellschaft. Und falls es doch so kommen sollte, mache deren Aktien so teuer wie es irgend geht. Auch wenn man eine Aktie versteigert, die man selbst nicht kaufen kann oder will, zieht man doch dem Käufer Geld aus der Tasche. Jeder Dollar zählt, ob man ihn gewinnt oder die anderen ihn zahlen. Ach ja: Falls mir das unverschämte Glück widerfährt, alleiniger Aktionär zu bleiben, steigere ich immer den Wert „meiner“ Gesellschaft.
Für einige wenige ist dieses Spiel in gewisser Hinsicht eine doppelte Investition. Genau für 80 Sammler, die dieses Spiel 2007 in Essen auf der Messe als WABASH CANNONBALL gekauft haben. Winsome Ausgaben sind typischerweise spartanisch ausgestattet. Aber John Bohrer hat seine treuen Fans und den richtigen Riecher für gute Spiele. Bloß – wer wird demnächst noch seine Spiele kaufen, wenn ein Jahr später seine Kronjuwelen in einer viel schönere Ausgabe für den gleichen oder günstigeren Kurs angeboten werden?
Wolfgang Friebe
CHICAGO EXPRESS von Harry Wu für 2 bis 6 Personen, Lizenz: Winsome, Queen Games 2008