Industrialisierung vor der EisenbahnIch liebe Google. Fragen Sie Google nach englischen Kanälen, oder besser nach
„narrow boats“. Dann wüssten Sie alles, bräuchten keinen Rezensenten, der Ihnen das hübsche Thema des Spiels erklärt, aus den Fundstellen abschreibt oder Ihnen die Bedeutung von Leighton Buzzard für die englische Kanalschifffahrt erklärt. Warum, weshalb, wieso ... das schaffen Sie auch selbst. Jede Information und auch dieses Spiel sind nur drei, vier Klicks entfernt, die erste Auflage zwar nicht mehr, aber eine zweite soll kommen. Oder fahren Sie direkt auf die Insel, genauer nach Llangollen in Wales. Falls Sie gerade keine Karte zur Hand haben, diese Ortschaft findet sich auch auf dem Spielfeld von CANAL MANIA, nördliche Hälfte, westliches Viertel ganz links unten. Ich muss es Ihnen so genau erklären, denn wer kennt sich schon in der englischen bzw. walisichen Kanalbaugeografie aus. Nach Llangollen führt der Shropshire Union Kanal, hinweg über das imposante Pontcysyllte Aquädukt von Thomas Telford. Sowohl Aquädukte als auch Thomas Telford spielen eine wichtige Rolle im Spiel, das nur nebenbei.
Wie war das herrlich, am Ufer dieses Kanals zu sitzen und den Hausbootkapitänen zuzusehen. Gemächlich kamen sie auf ihren schmalen Kähnen tuckernd den Kanal entlang, den Auspuff in Augenhöhe, die Abgase in der Nase und den Ruß im Gesicht. Auf so einem schmalen Kahn ist kein bisschen Platz für Frischluft. Pferde, die die Kähne treideln, habe ich keine mehr gesehen. Nur diese Kapitäne, die stoisch ihren Diesel ertrugen. Der Wind stand wohl gerade schlecht. Wie schön kann Kanalromanitk sein ...
Die Schachtel bringt diese Stimmung gut 'rüber. Fünf kräftige Kerle schuften mit Spaten und Schubkarre hinter einem Damm, tragen fast einen halben Berg ab. Sechs Kollegen machen gerade Pause, so ist das wahre Leben. Nicht nur deshalb ist gleich Schluss mit Romantik, denn auch der Spielplan führt Sie gleich wieder in die reale Welt der Sechsecke aus Flachland und Hügeln, umsäumt von einer Perlenkette für die Siegpunkte. So schön kann England sein. Aber im großen und ganzen kann man mit dem Material zufrieden sein. Gut, die Auftragskarte für jeden der 30 Kanäle hätte schon eine Karte mit dessen Lage beinhalten dürfen. Wo liegt der Kanal mit dem hübschen Namen „The Medway Navigation“ und wo bitte ist denn Tonbridge und wo Maidstone, Start und Ziel des Kanals? Ich bin doch kein Engländer, der sowas aus dem Effeff weiß. Immerhin verrät mir die Auftragskarte, dass die Verbindung aus höchstens drei Plättchen bestehen darf.
Und schon sind wir mitten im Spiel. Man hat immer mindestens einen, manchmal auch zwei Aufträge vor sich liegen. Für die Endwertung kommt es auch darauf an, möglichst viele Kanäle zu vollenden, aber im Spiel lassen sich mehr Punkte machen, wenn man über ein weit verzweigtes, ununterbrochenes, eigenes Kanalnetz verfügt. Also Augen auf bei der Wahl der Aufträge. Denken Sie auch schon an die Phase der Warenverteilung und des Transports, da lohnt es sich unbedingt auch Kanäle mit Anschluss an Großstädte zu bauen und nicht nur auf Kleinstädte zu setzen. Ich greife vor ... ich weiß, aber sonst werden Sie nicht schlau aus Spiel und Regel.
Ihr Zug besteht aus drei Phasen. Hören Sie ihn pfeifen und zischen ... den Zug meine ich. Natürlich handelt es sich hier nicht um ein Eisenbahnspiel, hätte es aber genauso gut sein können. In der ersten Phase kümmern Sie sich um Aufträge, um einen neuen Ingenieur oder tauschen die Baukarten der Phase zwei komplett aus. Die Herren Ingenieure Brindley, Smeaton, Jessop, Rennie und Telford lassen grüßen. Jeder von ihnen erleichtert Ihnen den Bau der Kanäle auf seine Weise. Dass man – wenn man die Herren noch nicht näher kennt – immer über den Tisch zu deren gerade aktuellen Auftraggebern linsen muss, sei der geringen Erfahrung geschuldet. Trotzdem, halten Sie die Ingenieure im Auge, und entscheiden Sie sich für eine der drei Möglichkeiten. Stopp, alternativ dazu hätten Sie auch noch eine vierte Möglichkeit, die sie immer anstelle einer Phasenaktion ausführen dürfen: Ziehen Sie einfach eine Karte vom verdeckten Baustapel.
Soweit alles klar, dann sind Sie schon in der zweiten Phase. Wählen Sie: Drei von fünf Baukarten, oder Sie geben Karten ab, um Kanäle, auch in Teilstücken zu bauen. Wie gebaut wird ist streng reglementiert. Nie dürfen die gleichen Plättchen aneinander grenzen. Im Flachland folgt auf eine normale Strecke immer eine Schleuse, auf eine Schleuse eine Strecke ... In den Hügeln folgt ein Aquädukt einem Tunnel, folgt ein Tunnel einem Aquädukt ... Zum Glück lassen sich Hügel meistens mit nur einem Bauwerk durchstechen. Das ist auch gut so, denn die passenden Karten für Aquädukt oder Tunnel sind nicht ganz so häufig und deshalb heiß begehrt, ebenso die paar Joker.
Die maximale Streckenlänge eines Kanals ist vorgegeben. Viel Spielraum bleibt da nicht, die Kanalplanung muss sich ganz eng an den historischen Verlauf halten. Das Regelheft enthält deshalb auch eine vierfarbige Karte mit allen Kanälen. Aha, so wird es dann auf Ihrem Plan aussehen. Man wird Teilhaber an historischem Geschehen, aber spielt man dabei auch wirklich mit? Erste Zweifel keimen auf, ob CANAL MANIA nicht doch eher eine hübsche Simulation als ein Spiel ist.
Wer immer kann, sollte punkteträchtig bauen: Schleusen bringen einen, Aquädukte zwei und Tunnel sogar drei Punkte. Also, welche Karten nehmen Sie? Das Dumme ist nur, dass Sie für ein Aquädukt zwei, für Tunnel drei solcher Karten benötigen. Oder haben Sie gerade einen Ingenieur unter Vertrag, der Ihnen hilfreich unter die Arme greift, so dass Sie weniger Karten für diese Bauvorhaben benötigen?
Über die Baukarten kommen auch Warenklötzchen ins Spiel. Auf 21 ist ein kleines Warensymbol. Die Regel diktiert die Verteilung, degradiert die Spieler zu Bühnenarbeitern des historischen Schauspiels. Zuerst wird immer eine Großstadt der entsprechenden Farbe und Kanalanschluss mit einer Ware versorgt. Falls die noch keinen Anschluss hat, eine „normale“ Stadt mit Kanal vor der Haustür ... manchmal hat man sogar tatsächlich eine Wahl, denn wenn die Großstadt in dieser Farbe schon belegt ist, darf man unter sechs Kleinstädten gleicher Farbe aussuchen, vorausgesetzt jede hat einen Kanalanschluss. Auf jedem Stadtfeld darf immer nur ein Klötzchen liegen, so füllt sich das Brett mit Waren.
In der dritten Phase wird meistens ein Klötzchen transportiert, vorausgesetzt man macht mehr Punkte als die Konkurrenz. Das geht nur dann, wenn man möglichst nur über eigene Kanäle transportiert, das letzte Teilstück der Transportstrecke besitzt und keine Stadt gleicher Farbe zweimal angefahren wird. Wer von A nach B transportiert, bekommt zwei Punkte – für Start- und Zielort. Zwei Punkte sind für längere Zeit das höchste der Gefühle. Alle Zwischenstationen bringen ebenfalls einen Punkt. Liegen fremde Kanäle in der Route, kassieren deren Besitzer mit. Da überlegt man sich genau, wem man Punkte gönnen kann und wem nicht. Und irgendwann erreicht jemand die erforderliche Siegpunktzahl; dann wird diese und zwei weitere Runden noch gespielt. Warum eigentlich? Erst dann gibt’s Punkte für nicht vollendete Kanäle, für Transporte auch noch des allerletzten Warensteins und reichlich Bonuspunkte für die meisten Kanäle.
Da fragt man sich dann doch, ob das Spiel über die lange Dauer trägt. Man macht so gar nichts, wenn man nicht an der Reihe ist und ist so eng in das Spielkorsett eingebunden, dass man kaum eine Wahl hat. Jeder baut man an seinen eigenen Geschichten. Man erkennt schnell: Mit einem verzweigten eigenen Kanalsystem lassen sich durch einen einzigen Transport mehr Punkte erwirtschaften, als wenn man nur von A nach B verschifft. Außerdem kann man sich so auch noch Bereiche sichern, in denen man keine Konkurrenz fürchten muss, weil niemand einem den Warenstein wegschnappen kann.
Außerdem gibt es durchaus lukrativere Ecken. In und um London herum lässt sich vortrefflich wirtschaften. Die Kanäle von Gloucester nach Worcester oder Oxford mit der Möglichkeit des Anschlusses an London bzw. in den Norden sollten auch erste Wahl sein. Und erst recht Stoke im Nordwesten mit vollen sechs Anschlüssen! All das nährt aber nur noch mehr die Vermutung, gespielt zu werden. Wie man spielt ist nicht eigener Entschluss, es ist eher die Frage wann man was machen kann und welche Auftragskarten gerade ausliegen. Natürlich lohnt es sich erst zu überlegen, wenn die Spieler vor einem ausreichend lange überlegt haben.
Aber gibt es wirklich was anderes zu überlegen als dieses: Ich wähle einen Auftrag aus einer lukrativen Ecke, erst den kürzeren, dann den längeren Kanal, und möglichst mit Anschluss an die Großstädte (in dieser Reihenfolge:) London, Gloucester, Birmingham, Manchester, Leed oder Nottingham. Wenn ich dazwischen noch Stoke oder Coventry einbauen kann, umso besser. Nur leider ist man manchmal gezwungen, einen wirklich unattraktiven Kanal beginnen zu müssen. Lincoln-Boston zum Beispiel.
Ich greife bei den Baukarten immer zuerst die Joker ab, dann Tunnel, dann Aquädukte, dann Schleusen. Nur bei den Ingenieuren bin ich mir unsicher. Welcher ist der Beste? Jeder hat so seine Stärken, allerdings kostet das Anheuern eines neuen Ingenieurs auch immer die Aktion der ersten Phase. Aber sind Ingenieure das einzig Variable im Spiel? Dies zu ergründen, ist meine Sache nicht. Ich halte es wie einer meiner Mitspieler: „Ach, nicht nochmal CANAL MANIA, wenn schon Eisenbahn, dann lass uns doch AGE OF STEAM oder besser RAILROAD TYCOON spielen.“ Recht hat er, das schöne Kanalthema hin oder her.
Wolfgang Friebe
CANAL MANIA von Steve und Phil Kendall für 3 bis 5 Personen,
Ragnar Brothers 2006Anmerkung:Es ist mittlerweile eine zweite Auflage erschienen, die sich in
einigen Punkten von der hier besprochenen Ausgabe unterscheidet und deutlich gegenüber der ersten Auflage verbessert wurde.